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Die Wirtin


Die Wirtin muss die Wirtschaft in Gang halten und hat viele Kinder. Sie ist vielbeschäftigt, hat immer etwas zu tun, und meistert alles, so gut sie kann.

Noch dazu muss sie sich mit ihrer halbwüchsigen Tochter herumärgern, die faul ist und viel zuviel will, was ihr gar nicht zusteht.

Irgendwo darunter ist die eigene Lebenslust der Wirtin begraben, die eigenen Träume. Darum trägt sie ein Kleid aus Stoffen in allen Farben, die sie irgendwo kriegen konnte, auf dem Markt oder von umherziehenden Stoffhändlern, die bei ihr in Worms unterkommen, um dann über Land zu ziehen und den Bauersfrauen Stoffe zu verkaufen. Die Wirtin sitzt also direkt an der Quelle!

Evolution des Kostüms

Leitbild 1 : Die Hausmagd

Dies ist ein sehr schönes Genrebild einer einfachen arbeitenden Frau, Vermeers Milchmädchen, ca. 1658.


Sie trägt einfache, gutsitzende Kleider aus Leinen oder Wolle in allen Grundfarben. Wunderschön, aber mehr als hundert Jahre später als Luthers Zeit, und in einem anderen Winkel der Welt.















Leitbild 2: Cranach/Kleid: Katharina von Bora

Alle Frauenbilder, die wir aus der Zeit und Gegend von Luthers Wirken (Sachsen, 1515-30) kennen, haben das vorne geteilte Kleid mit der Schnürung überm Bauch, die meisten mit Brustfleck.

Das beste Beispiel ist natürlich Katharina von Bora, Luthers eigene Frau.
Aber die Cranach-Werkstatt hat Dutzende von Frauenporträts mit Kleidern in diesem Stil produziert.

Wie kann ich nun beide Stile verbinden?



Das Oberteil (Eine Entstehungsgeschichte)

Erste Iteration: Das Oberteil ist gerade geschnitten, aus burgunderrotem Leinen. Leinen hat eine gewisse Dehnbarkeit und Biegsamkeit. Ich hoffte, diese Teile der Schauspielerin auf den Leib zu drapieren, aber leider: Das passte überhaupt nicht.

Auch im Photo: die Stoffe. Ich benutze kräftige Grundfarben, meist Leinen, wie in dem Vermeer-Porträt.









Zweite Iteration: Dies ist ein ein Schnittmuster, das der Schauspielerin gut passt. Es ist modern, hat ein Rücken- und ein Vorderteil und Prinzeßnähte zur Formung des Oberkörpers.




Hier habe ich einfach aus dem vorderen Mittelteil des Originalschnitts ca. 10 cm vor der vorderen Mitte eine Linie zum Halspunkt gezogen und abgeschnitten. 10 cm ist ca. die Entfernung des Brustpunkts zur Mitte, so dass der Spalt vorne ca. 20 cm breit wird.

Alle Schnittmuster sind mit der Open-source software  Valentina modelliert worden.




Diese Art des Zuschnitts ist modern und überhaupt nicht historisch, aber dafür konnte ich von einem existierenden Schnittmuster ausgehen.


Die Blende: Blende. Verbrämung. Kragen, Ausschnittbesatz. Der Besatz am vorderen und oberen Rand des Vorderteilausschnitts, in diesem Bild aus gemustertem goldfarbenem Stoff.
6 cm vom Rand des Vorderteilmusters und Rücken, einfach aus dem Schnittmuster extrahiert, so:
und ausgeschnitten:

Hier sind auch die Miederstäbchen, mit denen der Vorderrand des Kleides verstärkt wird. Eine Kante, die mit Schnürbändern gebunden wird, braucht unbedingt eine Verstärkung. Die Miederstäbchen sind aus gewobenem Plastik, durch das man hindurchnähen kann, und mit dem Bügeleisen auf Form gebracht. So sieht das dann auf dem Oberteil aus:




Schnürung und Brustfleck: Es haben sich schon viele den Kopf darüber zerbrochen, wie diese Schnürung funktioniert. Sie muss recht straff sein, um das Oberteil am Oberkörper anliegen zu lassen, aber man sieht keine Ösen oder Löcher, und es ist nicht klar, wie dieser Schnürung einfach in den Brustfleck übergehen kann, der ja ebenfalls straff die Seitenteile verbinden muss.

Ich habe dieses Ringband innen hinter die Vorderkante genäht. Die unteren fünf Ringe sind für die Schnürung. Sie sind auf der Kante (tatsächlich auf den engeschobenen Miderstäbchen) festgenäht, damit die Kante darüber nicht aufspringt, wenn die Schnürung straff gezogen wird.
In die oberen vier Ringe wird der Brustfleck eingehakt, der mit steifer Einlage verstärkt ist. Die passenden Häkchen sind auf dem Brustfleck etwas bogenförming angebracht, der Körperform entsprechend.


Die Haken werden unter der Blende in die Ringe eingehängt. Wenn die Blende zurückgeklappt ist, sind die Ringe und die Kante des Brustflecks verdeckt.


Dies ist das Ergebnis:


Der Rock

Der Rock hier ist mit Popeline in derselben Farbe unterlegt, weil das Leinen sonst durchscheinend wäre und nicht so schön fallen würde. Am oberen Rand sind beide Stoffe miteinander verstürzt, aber dies wird in der Oberteilnaht verschwinden.

Der Rock wird oben in Stiftelfalten gelegt (cartridge pleats), hinten etwas dichter als vorne.
Der obere Rand ist zwischen den Lagen mit zwei Leinwandstreifen verstärkt, damit die Fältelung mehr Stand hat und gleichmäßiger sitzt. Das Einreihverhältnis (pleating ratio) ist 1:3, aber damit sitzen die Falten noch nicht sehr dicht, bis 1:5 oder 1:6 wäre denkbar für einen volleren Rock, zB für ein Adligen-Kostüm... oder das Kostüm der Tochter, die ihre Sonntagssachen trägt...


1. Der Rock in Stiftelfalten gelegt, an der Schneiderpuppe. 2. Die Falten auf ein Taillenband aufgenäht.
3. Die Falten und das Taillenband an die Innnseite   des Oberteils genäht. Die Falten sollen so frei wie möglich fallen, daher sind sie nicht zwischen Stofflagen genäht, was sie flach pressen würde.    4. Und so fallen die Falten dann am Rückenteil    des Kleides.

Die Ärmel

Getreu dem "Milchmädchen"-Porträt sind die Ärmel aus grünem, Leinen, gelb gefüttert. Sie sind kürzer und sollen hochgekrempelt werden, die Wirtin ist eine arbeitsame Frau.

In der Renaissance waren Ärmel oft austauschbar und wurden angenestelt, das würde auch die andere Farbe erklären.

Wie baue ich diese Idee in dieses Kostüm ein?

Iteration 0. Die Idee: Die Ärmel mit Bändern annesteln, eine einfache Blende als Abschluss der Armlöcher, die den Ansatz der Nestelbänder verdeckt.

Das war der erste Ansatz, aber ergab eine Silhouette und eine Betonung der Schultern, die nicht passen wollte. Auf allen Cranach-Porträts fallen die Schultern rund ab.











Iteration 1. Also keine Blende, die Ärmel ohne Blende annesteln.


(Hier sieht man schon die Schürze und Tasche der Wirtin. Sie muss ja von Luther Geld entgegennehmen und irgendwohin tun.)

Nein, das sieht auch nicht gut aus.

Iteration 2. Die Ärmel werden doch fest eingesetzt-- aber ostentativ temporär, überwendlich genäht, mit kontrastierenedem Garn.


Das fertige Kostüm


Und hier ist das fertige Kostüm, ohne und mit Schürze und Tasche:

So arbeitet die Wirtin in ihrer Herberge, feilscht mit Luther, streitet sich mit ihrer Tochter.

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